Freitag, 2. November 2007

Ich bin bereit dich zu verstehen,... aber auch mich selbst.

Einfühlungsvermögen (jap. ゲフュールス・アインフュールンク; ゲフュールスアインフュールンク, wörtlich: Einfühlung {f} in das Gefühl jmdn. anderen)

Auf den ersten Blick erscheint der Ausdruck des Einfühlungsvermögens nicht missverständlich, noch eröffnet sich sogleich der Zusammenhang mit unserem Aikido. - Gern als feminine Charaktereigenschaft bezeichnet, lädt der Begriff geradezu dazu ein, einen zum Einfühlen fähigen Menschen als tugendhaft und sensibel zu bezeichnen.
Was also macht diese Eigenschaft des menschlichen Charakters aus, dass ich mich entschieden habe sie an die zweite Stelle meiner Sammlung von Grundbegriffen zu stellen?

Wenn man ohne lange nachzudenken antwortet, so wird man schnell verführt zu sagen, dass der Einfühlende sich einfach sehr gut in eine andere Person hineinversetzen kann, sich also sprichwörtlich in sie hinein fühlt. Aber bei genauerem Hinsehen stellt man schnell fest, dass an diese Eigenschaft Voraussetzungen gebunden sind, ohne die die Fähigkeit zum Einfühlen nicht zum Tragen kommen würde.
Denn wie sollte unsere sensible Figur – nennen wir sie der Einfachheit halber „den Einfühlsamen“ – ein anderes Individuum wahrnehmen und verstehen, wenn er sich nicht erst selbst wahrnimmt (Wahrheit > wahr sein > sein) und sich selbst versteht (stehen > Haltung)?




Somit beginnt der emotionale Versuch sich in sein Gegenüber einzufühlen eigentlich bei sich selbst, bei der Abgrenzung des eigenen Seins zu allem anderen und der Definition des eigenen Ich in Abgrenzung zu den anderen Menschen, wonach die eigene Erfahrung auf einer Negativdefinition oder Subtraktion der eigenen Individualität vom Kollektiv basiert. Selbstwahrnehmung also als Abgrenzungsmechanismus aus der Masse und ergo Bestätigung des eigenen Seins durch Negation: Das sind die anderen, ich bin nicht die anderen, also bin ich das!
Das Problem bei dieser Form der Wahrnehmung liegt im Konzept der Ausgrenzung, denn wenn der Ausgangspunkt der eigenen Findung das Heraustrennen des eigenen Seins aus dem kollektiven Sein der Natur ist, dann ist jeder Versuch des Herantretens an einen Teil "des Anderen" wie eine Art Regression, bei der man versucht etwas zu verstehen, von dem man irgendwann mal ein Teil war. Es fühlt sich an, als erahne man etwas von den Eigenschaften "des Anderen", als kenne man dieses "Andere", kann aber nicht sagen warum und wieso.

Für unser Aikido bedeutet dies, dass Einfühlungsvermögen sehr viel mit der eigenen, ausgegrenzten Persönlichkeit zu tun hat, die nun in einer ritualisierten Ausnahmesituation aufgefordert wird mit einem Teil "des Anderen" umzugehen.
Wenn man dabei von der Prämisse ausgeht, dass unser Gegenüber sich in einer ähnlichen, vielleicht sogar in der selben Situation befindet wie wir selbst, dann bekommt die Geste des Einfühlens eine neue Dimension: Es treffen zwei Individuen aufeinander, aber sie sind sich nicht wirklich fremd, sie berühren sich, obwohl sie von einander annehmen nicht zusammen zu gehören.
Es lohnt sich diese Worte genau zu betrachten: Individuum kommt aus dem Lateinischen und bedeutet wörtlich "nicht teilbar". Aufeinandertreffen steht für den Kontakt zweier getrennter Energien, die sich an einem Punkt berühren. Folglich treffen sich an einem bestimmten Punkt zwei unteilbare Energien, die von sich glauben auch nicht vereinbar zu sein. Der Punkt ihres Zusammentreffens ist der Kontakt. Auch dieser Ausdruck kommt aus dem Lateinischen, von "contingere" und bedeutet berühren. Die beiden nichtteilbaren Energien treffen also aufeinander und berühren sich. Unter bestimmten Bedingungen - den Bedingungen des Aiki - können sie sich sogar vereinen, aber nicht nur miteinander, sondern gleichzeitig mit allem was sie umgibt.

Der Weg des Aiki bietet dem Aufmerksamen und Einfühlsamen ein Werkzeug, einen Mechanismus, der es den beiden unteilbaren Energien erlaubt sich zu berühren, ohne dass sie aufeinander prallen müssen. Statt eines energetischen Gegeneinanders findet der Aikidoka durch sein Einfühlungsvermögen den Weg zum Verständnis sowohl seines eigenen Ich, und von dort aus zur Analogie seines Gegenübers. - Wenn dann beide Energien erst sich selbst, dann den anderen begriffen, berührt, und kontaktiert haben, sie sich selbst im Spiegelbild des Aikidopartners gespiegelt sehen und verstehen, dass es keinen Unterschied gibt, dann finden sie zum Ursprung der natürlichen Energie zurück, jener Energie in der es keine Unteilbarkeit mehr gibt. In ihr - der universellen Energie - findet der Aikidoka und Za-Zen-Praktizierende den wahrhaften Zustand der Unteilbarkeit und Universalität, denn wenn alles zu allem gehört, wie kann man dann etwas von etwas trennen?
In diesem Zustand kommt die Natur zur Ruhe, das Universum kümmert sich wieder um seine Atmung, die Gezeiten, und wir gehen für einen Augenblick in einer einzigartigen, weil unteilbaren Energie auf, die irgendwann mal die Grundlage von allem war, und realisieren den wahren Wert des Einfühlens in uns, in andere, in alles, denn dann haben wir das Geschenk des Weges in unser Herz aufgenommen.

---

Sonntagstraining am 3. November 2007:

9:00 sitZen

9:45 Matten der Sicherheit

10:00 Weg des Herzens

Keine Kommentare: