Sonntag, 11. November 2007

Makoto: Kümmere Dich aufrichtig um andere Menschen.

Aufrichtigkeit: Makoto, es gibt viele Versionen und Lesungen: jap. 実, 信, 真, 誠: vollkommene Aufrichtigkeit, aber auch Redlichkeit, Wahrheit, Ehrlichkeit, Wirklichkeit, tatsächlich, real, wahr etc.

Meister Taisen Deshimaru Roshi (1914-1982), einer der bedeutendsten Zen-Meister unserer Zeit, definiert Bushidô folgendermaßen:
„Bushidô, der WEG des Samurai, entstand durch die Vereinigung des Buddhismus und des Shintoismus." Dieser WEG lässt sich in sieben wesentlichen Punkten zusammenfassen:

1. Gi: die rechte Entscheidung aus der Ruhe des Geistes, die rechte Haltung, die Wahrheit. Wenn wir sterben müssen, müssen wir sterben.

2. Yu: Tapferkeit und Heldentum.

3. Jin: die universale Liebe, das Wohlwollen gegenüber der Menschheit.

4. Rei: das rechte Verhalten – ein ganz grundlegender Punkt.

5. Makoto: vollkommene Aufrichtigkeit.

6. Meiyo: Ehre und Ruhm.

7. Chugi: Hingabe und Loyalität.

Diese wesentlichen Punkte gehen demnach auf die folgenden Einflüsse zurück:
Der Shintô brachte die extrem kriegerischen Elemente ein:

• Makotô, die Reinheit des Geistes,

• Giri, das Pflichtbewusstsein, die Pflichterfüllung,

• Chûgi, die Treue zum Tennô und seinem Daimyô,

• Yamato-damashi, die Ahnenverehrung,

• Yamato-kokoro, den Patriotismus
(Yamato = Japan, kokoro = Herz, Geist, Seele).

Vom Konfuzianismus wurden vorwiegend die Moralvorstellungen (gojô, die fünf Tugenden und gorin, die fünf ethischen Prinzipien) übernommen:

• Chû, die Loyalität gegenüber seinem Vorgesetzten, dem Clan und der Familie,

• Gi, die richtige Haltung, die strikte Beachtung der Normen,

• das Bekenntnis zu den fünf Tugenden: Empfindsamkeit (yin), Höflichkeit (rei), Aufrichtigkeit (shin), Weisheit (chi) und Gerechtigkeit (gi).
Der Zen-Buddhismus brachte vor allem die Fähigkeit,

• das Unvermeidliche zu erdulden,

• sich intensiv zu konzentrieren,

• selbst in gefährlichen Situationen Ruhe zu bewahren und

• die Überwindung der Angst, vor allen Dingen der Angst vor dem Tod.

„Aus diesen drei geistigen Quellen entwickelte sich eine eigenständige Ideologie, der sich das gesamte japanische Volk verpflichtet fühlte“, (Vgl. LIND, WERNER: Die Tradition des Karate. Geschichte, Meister und Stile der traditionellen Kampfkunst in Okinawa und Japan. Heidelberg, Kristkeitz 1991.)
Wie bereits an anderer Stelle ausgeführt, finden sich diese Strukturelemente in den Grundpfeilern des Budo wieder. Dabei kann man Budo stark verallgemeinernd als Sammelbegriff für japanische Kampfkunstsysteme, die neben der körperlichen Verbesserung vor allem auf die Vervollkommnung des Geistes zielen, bezeichnen. Allen Budo-Kampfkünsten ist gemein, dass sie großen Wert auf Disziplin, Verantwortungsbewusstsein und das richtige Verhalten aus Überzeugung (charakterliche und innere Reife) legen. Dabei werden die Budo-Kampfkünste stark vom japanischen Bushido beeinflusst. Der Bushido ist im Denken der Japaner und in der Tradition des Landes so tief verwurzelt, dass er im gesamten japanischen Alltagsleben, sogar bis in die heutige Zeit, spürbar sein soll. Diese These wird uns in nächster Zeit von unserem lieben Freund Youssef entweder bestätigt oder definitiv widerlegt werden!
Gelten tut dieser Sachverhalt allerdings besonders für die Budo-Kampfkünste; nicht zuletzt, weil viele Samurai nach dem Verbot, ihre Waffen in der Öffentlichkeit zu tragen, sich vermehrt in Richtung der waffenlosen Budokünste orientierten. Budo beinhaltet aber nicht nur waffenlose Kampfkunst, sondern auch Waffenkünste wie das okinawanische Kobudo oder das Kendo. Die wichtigsten Budo-Kampfkünste sind: Aikido, Iaido, Judo, Jujitsu, Karate, Kendo, Kenjutsu, Kyudo. Ihnen allen ist gemein, dass sie einen „Weg der Persönlichkeitsentwicklung“ darstellen. Das Ziel dieser verschiedenen Formen des WEGES ist es nicht einen Kampf zu gewinnen, sondern ihn zu vermeiden und den Feind zum Freund zu gewinnen. Auf der technischen Ebene sind Geschmeidigkeit und Elastizität gefordert, um den Angriff des Gegners ins Leere laufen zu lassen. Die Techniken zielen auf das Gleichgewicht des Gegners und auf geschicktes Ausweichen oder Umlenken der Energie des Gegners, der in einem fortgeschrittenen Stadium zum Partner einer gemeinsamen Bewegung wird.

Meister Christian Tissier verwendet während seiner Seminare oft den Terminus des Codes oder der stillschweigenden Abmachung, gemäß dem die Partner die Formen der Technik miteinander üben oder auch einstudieren. Um dieses gemeinsame Studium zu ermöglichen werden bestimmte Elemente als bekannt vorausgesetzt. So versteht es sich, dass man während des Trainings den Partner nicht verletzt, noch sich ihm mit böser Absicht entgegenstellt oder blockiert. Der Sinn des gemeinsamen Übens besteht in der Möglichkeit die Formen des WEGES gemeinsam zu erleben bzw. es dem Partner zu ermöglichen die Formen zu erlernen und zu perfektionieren. Diese Abmachungen gehören im weitesten Sinne zur grundlegenden Etikette aller Budoarten und machen somit ihren gemeinsamen Charakter aus.

Wie ich auch schon im Kapitel über die Vorbehaltlosigkeit erklärte, stellt der hier zu besprechende Terminus der Aufrichtigkeit also eine dieser stillschweigenden Abmachungen dar, ohne die der WEG nur schwerlich zu beschreiten wäre.

Rein technisch und dem Wortlaut folgend bedeutet Aufrichtigkeit in einer ersten Instanz weiter nichts, als dem Partner mit dem Ziel gegenüber zu treten, ihm beim Studium des WEGES zu unterstützen. Diese Unterstützung äußert sich vornehmlich als Zuwendung und Aufmerksamkeit in Form des Angriffs, und als Beobachtung und Anpassung in Form des Ukemis. Eng mit dem Konzept der Vorbehaltlosigkeit verbunden, bietet die notwendige Aufrichtigkeit sprichwörtlich eine Chance um dem Partner „reinen Herzens“ zu begegnen und ihm mit großer Hingabe das eigene Leben anzuvertrauen.
In einem nächsten Schritt bedeutet Aufrichtigkeit schon viel mehr als nur eine äußere, körperliche Haltung. Die tiefsten Gedanken und Gefühle drücken sich unweigerlich auf unserer Oberfläche als Gesten und Bewegungen aus. Der Gemütszustand lässt sich nur schwer verbergen und der Versuch einer bewussten Vertuschung führt meist zu sichtbaren Verspannungen und Verhärtungen in der Haltung, so dass Aufrichtigkeit zum Synonym für die Balance zwischen innerer Aufrichtigkeit und einer äußeren freien und gelösten Körperhaltung wird.
In diesem zerbrechlichen Zustand völliger Aufrichtigkeit (makoto) bekommt der Begriff weitere Dimensionen: von der Aufrichtigkeit dem Partner gegenüber entspringt die unbedingte Notwendigkeit der Aufrichtigkeit vor sich selbst, vor dem eigenen Wesen als Bedingung für die Hinwendung zum anderen. Diese Form des aufgerichtet Seins, des in sich selbst Stehens und Ruhens, deutet auf die Wahrnehmung des eigenen Seins hin. Stehen ohne eine Last, völlig aufgerichtet, vollkommen wach, fähig alles wahrzunehmen, wirklich und wahrhaftig zu SEIN, angefüllt von allem, vereinigt mit allen Dingen, ohne an ihnen zu haften (mushotoku), die Dinge und den Partner bemerkend, aufmerksam, hier und jetzt völlig leer (mu).

Das Erbauliche an diesen Grundelementen des BuDO - und somit auch des AikiDO - ist ihre Konnektivität. Sie sind nicht nur miteinander verbunden und verwoben, man kann sie auch untereinander austauschen und verwenden, um ein anderes Glied in der Kette zu verdeutlichen oder genauer zu erklären. Aber die Abwesenheit allein eines der Bausteine erzeugt unweigerlich ein beträchtliches Ungleichgewicht im Fluss des universellen KI.
Das kohärente Gebäude des Budo als integrativem Teil des Lebens kann nur bestehen und seine Wirkung entfalten, wenn der Praktizierende sich zu jeder Zeit aller formativen Elemente bewusst ist. Dabei handelt es sich nicht um eine aktive Form des Bewusstseins, sondern lediglich um die Präsenz des Gedankens im „hier und jetzt“, so wie er durch die Praxis des Za-Zen gefördert wird, und letztlich in der unbeschreiblichen Vollendung der Ästhetik der Aikidoformen zu beobachten ist.
In meinem Verständnis stellt Aikido eine Emulation des natürlich-universellen Flusses dar. Eigentlich immer präsent, haben wir Menschen verlernt den Fluss zu sehen und zu fühlen. Vergegenwärtigen wir uns aber die Säulen des Budo und akzeptieren die Leere des Zen, dann erscheint der Fluss nicht nur in aller Deutlichkeit, sondern er tritt in uns, greift an unsere Essenz und lässt uns in ihm aufgehen. Nach außen hin mag das profan als Meisterschaft im Budo erscheinen. Aber in der inneren Sphäre bedeutet das nichts anderes als die Rückkehr zum Ursprung der Dinge.
So wie die Kuh muht und das Neugeborene schreit, so gliedert sich der eigene kontrollierte Atem (OM, oder die Kunst seinen Atem zu beherrschen) unter dem Einfluss des Budo und des Zen in das Unisono des Kosmos. Aikizen oder Zenkido also als ganzheitliche Therapie des Lebens. - So lasse ich mir meine Medizin gefallen, auch wenn sie unter Umständen bitter daher kommt, aber wie süß ist auf Dauer ihre Wirkung.

__________
Verwendete Literatur:

Davey, H. E.: Unlocking the secrets of Aiki-jujutsu, Indianapolis 1997.

Deshimaru, Taisen: Die Lehren des Meister Dogen: Der Schatz des Soto-Zen, München 1991.

Deshimaru, Taisen: Zen in den Kampfkünsten Japans, Heidelberg-Leimen 1994.

Nocquet, André: Der Weg des Aikido: Leben und Vermächtnis des Aikido-Gründers O-Sensei Morihei Uyeshiba, Weidenthal 1985.

Protin, André: Aikido, eine Kampfkunst ohne Gewalt: ein Weg der Selbstfindung und Lebensführung, München 2004.

Stevens, John: The secrets of of Aikido: The hidden teachings and universal truths of Aikido, as taught by its Founder, Morihei Ueshiba, Boston 1985.

---

Sonntagstraining am 11. November 2007:

9:00 sitZen

9:45 Matten

10:00 Aikido

Bekommen wir wieder Sonne?

Ich freu' mich auf euch,

liebe Grüße,

Henryk

Keine Kommentare: